06.10.2025
Serie: Schmerzen verstehen - Teil 2
Aus dem Buch: Schmerzen verstehen
Autoren: David Butler, Lorimer Moseley
ISBN: 978-3-662-48657-3 / 3. Auflage Springer Verlag
Im ersten Teil der Serie “Schmerzen verstehen” ging es darum, dass Schmerzen eine normale Reaktion des Körpers sind und dass das Schmerzempfinden nicht unbedingt im direkten Verhältnis zum Ausmass der Gewebsschädigung stehen muss. Ausserdem wurde erläutert, wie aus Gefahrensignalen Schmerzen werden. Im zweiten Teil erfahren Sie, unter anderem, was passiert, wenn Schmerzen bestehen bleiben.
Schmerzen sind ein wichtiger Mechanismus, um unser Überleben zu sichern. Zeitgleich mit dem Schmerz werden aber auch immer die natürlichen Heilungskräfte unseres Körpers aktiviert – ein verlässlicher und leistungsfähiger Prozess – sofern wir es auch zulassen. Der Heilungsprozess läuft unabhängig vom beschädigten Gewebe (Darm, Haut, Muskeln, ... ) immer gleich ab. Als Erstes wird eine Entzündung in Gang gesetzt - dabei werden Immun- und Wiederaufbauzellen in das betroffene Gebiet gebracht. Im zweiten Schritt wird eine Narbe gebildet und schlussendlich wird das Gewebe möglichst “originalgetreu” wieder aufgebaut. Der ganze Prozess dauert je nach Gewebe unterschiedlich lang – dies hängt immer von der Blutversorgung und der Anforderung des Gewebes ab.
Gefahrenrezeptoren – die erste Verteidigungslinie
Unser Alarmsystem arbeitet ununterbrochen, damit unser Körper optimal funktionieren kann. Häufig sind es nur kleine Veränderungen, die es von uns verlangt. Bewegung zum Beispiel ist enorm wichtig, um unser System “durchzuspülen”. Nach einem langen Arbeitstag im Büro mit wenig Bewegung bildet unser Körper Säuren, die wiederum unsere chemischen Sensoren aktivieren und Impulse in unser Gehirn senden, die uns zu Bewegung animieren. Teilweise verspüren wir sogar Schmerzen, wenn wir uns zu wenig bewegt haben – ein Zeichen vom Körper in Bewegung zu kommen!
Entzündungen sind ebenfalls eine Art der Verteidigung und unerlässlich für den ungestörten Ablauf eines Gewebeheilungsprozesses. Eine richtig tolle Sache – stellen Sie sich einmal vor, ihr Auto hätte einfach für ein paar Tage eine Schwellung an der Stossstange und wäre dann repariert. Während einer Entzündung schwellt das Gewebe an, damit Blut mit heilungsfördernden Chemikalien in das betroffene Gebiet hinein und aus ihm heraus transportiert werden können. Die Schwellung ist also nur ein Nebenprodukt einer Entzündung. Begleitet wird diese meist durch steife Gelenke am Morgen, schneidenden Schmerzen, Rötung und Erwärmung. Dies ist vor allem bei akuten Entzündungen der Fall. Bei chronischen Entzündungen durch bestimmte Krankheiten wie z.B. Polyarthritis, können auch noch andere und zusätzliche Effekte auftreten.
Entzündungen sind also normale Begleiterscheinungen von Verletzungen, die das Gehirn jedoch sofort beachtet. Es zieht eine Vielzahl von Signalen heran, um die Bedeutung von Gefahrenbotschaften zu interpretieren und eine passende Reaktion zu finden. Dazu gehören Erinnerungen an ähnliche Situationen, Überlegungen zu unmittelbaren und zukünftigen Folgen, sowie Vergleiche mit Erfahrungen anderer Personen oder finanzielle Auswirkungen. All diese Berechnungen finden unbewusst statt, während die Person lediglich Schmerz empfindet.
Muskeln werden oft für Schmerzen verantwortlich gemacht. Jedoch gilt es zu wissen, dass Muskeln eine bemerkenswerte Fähigkeit zur Heilung haben. Ernsthafte Muskelverletzungen sind dank ihrer hervorragenden Blutversorgung höchst schwierig – sie gelten als die Weltmeister im Heilen. Muskeln haben jedoch viele Sensoren, die zu Schmerzerfahrungen beitragen können. Muskeln haben eine zentrale Bedeutung für Bewegung, Schutz und Interaktion des Körpers mit der Umwelt und werden auch als “Fenster zum Gehirn” beschrieben. Wenn also Ihre Muskeln anders als sonst arbeiten, müssen Sie sich fragen, warum.
Ebenfalls oft mit Schmerzen verbunden werden Verletzungen der Bandscheibe. Bandscheibenverletzungen werden oft übertrieben und missverständlich beschrieben (“gerissen”, “abgebröckelt”, “herausgerutscht”, ...), was zu unnötiger Angst vor Bewegung führen kann. So können Bandscheiben beispielsweise nicht “komplett herausrutschen” - sie können sich aber durch Verletzungen nach vorne wölben, manchmal prolabieren (stellenweise heraustreten) oder gar auf einen Nerv drücken oder diesen irritieren. Obwohl sich dies alles sehr dramatisch anhört, heisst das noch nicht, dass durch diese Veränderungen das Alarmsystem ausgelöst wird. Tatsächlich werden die Bänder einer Bandscheibe sehr häufig überdehnt. Auch sind altersbedingte Abnutzungen (Degeneration) völlig normal und führen nicht zwingend zu Schmerzen.
Unsere Haut, die ungefähr 20% unseres Körpergewichts
ausmacht, ist eine entscheidende Schutzschicht für unseren Körper. Um diese
Schutzbarriere aufrecht zu erhalten, heilt unsere Haut auch viel schneller als
Bänder oder Muskeln. Interessanterweise führt eine Verletzung der Haut sehr
selten zu chronischen Schmerzen, mit Ausnahme von schweren Verbrennungen.
Sie hat ausserdem eine hohe Dichte an Sensoren: Alarmsensoren, Sensoren für
Hitze, Kälte, mechanische Kräfte und verschiedene Chemikalien. Auch die Faszie,
welche unter der Haut liegt, hat viele Gefahrensensoren.
Knochen und Gelenke werden oft für tiefe, bewegungsabhängige Schmerzen verantwortlich gemacht – dies führt dann zu vorsichtiger oder weniger Bewegung. Auch Knochen und Gelenke sind mit Gefahrensensoren versehen – deshalb schmerzt ein Tritt ans Schienbein auch so sehr! Es gilt jedoch zu beachten, dass nicht jedes entzündete Gelenk auch Schmerzen verursacht – je nachdem wie das Gehirn die Gefahr einstuft. So kann eine Person mit einem garstig verändert ausschauendem Röntgenbild keine Schmerzen haben und eine Person mit einem makellosen Röntgenbild Höllenqualen leiden. Eins gilt jedoch unumstritten: für die Gesundheit unserer Gelenke und Knochen ist Bewegung unabdingbar!
Auch unsere Nerven sind mit Gefahrensensoren versehen. Es gibt hunderte von Metern an Nerven in unserem Körper die vom Hirn bis in die äussersten Stellen gelangen und somit ein wichtiger Bestandteil unseres Gefahrensystems sind. Wenn ein Nerv verletzt worden ist und Ihr Gehirn (zu Recht oder Unrecht) annimmt, dass zum weiteren Überleben eine erhöhte Empfindlichkeit erforderlich ist, so kann es über die DNA der Nervenzelle mehr Stresssensoren produzieren. Folglich können dann verschiedene Stresssituationen (z.B. grippaler Infekt, emotionaler Stress, Schlafstörungen, …) eine Nervenempfindlichkeit auslösen.
Wenn Schmerzen bestehen bleiben
Alles was in unseren Geweben und in unseren Nerven
geschieht, hat Auswirkungen auf das gesamte Körpersystem. Letzten Endes
entscheidet allein das Gehirn, ob wir Schmerzen empfinden sollen oder nicht. Somit
gibt es keine eingebildeten Schmerzen, denn jeder Schmerz ist real – unser
Gehirn hat entschieden, dass unser Körper in Gefahr ist.
Es gibt viele Fälle, in denen Schmerzen noch bestehen bleiben, obwohl die
Verletzung selbst bereits ausreichend Zeit zum Heilen hatte. In diesen
Situationen kommt das Gehirn zu der Schlussfolgerung, dass weiterhin eine
Bedrohung für den Körper besteht und dass es immer noch alle verfügbaren
Schutzmassnahmen aufbieten muss. Dies kann zum Beispiel bei Funktionsveränderungen
im körpereigenen Alarmsystem geschehen, aber auch bei Veränderungen im
Rückenmark oder im Gehirn.
Sehen wir uns zuerst das Rückenmark an: Gefahrensignale werden im Rückenmark an den sogenannten Synapsen «verwaltet». Synapsen sind Verbindungsstellen zwischen Nervenzelle und anderen Zellen, die der Reiz- und Informationsübertragung dienen. Die Übertragung erfolgt meist chemisch durch sogenannte Neurotransmitter (chemische Substanz). Im Normalfall wird nun bei Gefahr kurzfristig die Sensibilität für ankommende Chemikalien erhöht, d.h. es können mehr Signale zum Gehirn gesendet werden. Es kann nun auch passieren, dass Nervenzellen neu zu «Gefahr meldenden Nervenzellen» werden und ebenfalls Gefahrensignale ans Gehirn weiterleiten. Auch kann es sein, dass harmlose Chemikalien als «Gefahrensignal» ans Gehirn geleitet wird. Es entsteht eine erhöhte Alarmbereitschaft des Nervensystems – welche immer ein Hauptmerkmal bei anhaltenden Schmerzen ist. In diesem sensibilisierten Zustand wird das Gehirn mit Informationen gefüttert, die den Gesundheitszustand und die Fähigkeiten der Gewebe nicht mehr wahrheitsgetreu wiedergeben. Dies ist für Personen mit langanhaltenden Schmerzen besonders wichtig zu verstehen. Dem Gehirn wird nämlich weisgemacht, dass es im Gewebe mehr Gefahren gibt, als dort tatsächlich vorhanden sind. Dadurch reagieren alle Körpersysteme heftiger als nötig wäre. Die erhöhte Empfindlichkeit sollte jedoch nachlassen, sobald die verletzte Struktur anfängt zu heilen und/oder man sich darüber im Klaren ist, was mit einem geschieht und was jetzt zu tun ist.
Sehen wir uns nun das Gehirn an: Die Veränderungen im Rückenmark führen auch zu Veränderungen im Gehirn. Aber keine Sorge – unsere Gehirne verändern sich ständig und diese Veränderung hat die Erhöhung der Empfindlichkeit zum Ziel; damit dient sie unserem eigenen Schutz. Die wesentliche Veränderung passiert an den Schmerzknotenpunkten im Gehirn. Dort wird die Anzahl der Sensoren erhöht. So wird dieses Areal leichter aktiviert – wenn Sie zum Beispiel an einer bestimmten Strassenecke einen Unfall hatten, wird ihr Körper an diesem Ort schnell reagieren und sich erinnern. Auch unser “virtueller Körper” (s. Teil 1) kann sich verändern, so kann das Gehirn z.B. durch “verwischen” von motorischen Hirnarealen die Bewegungen im betroffenen Körperabschnitt erschweren oder es macht nahegelegene Körperabschnitte übertrieben empfindlich (“verwischen” sensorischer Hirnareale). Dieses “Verwischen” im virtuellen Körper ist jedoch reversibel – genauso wie Forschungsergebnisse gezeigt haben, dass diese durch anhaltende Schmerzen bedingten Veränderungen mit einem funktionellen Training wieder reversibel sind.
Bei einigen Menschen führt schon die Vorstellung von Bewegung zu einem Anschwellen des schmerzenden Körperteils. Dies ist nicht verrückt, sondern eine erstaunliche Eigenart des Gehirns, andere Menschen zu kopieren – wie zum Beispiel beim Gähnen oder Lachen. So kann es, wenn ihr Schutzsystem darauf sensibilisiert ist, vorkommen, dass Sie beim Zusehen wie jemand eine schwere Kiste hebt, Schmerzen bekommen. Dies weil das Gehirn gelernt hat, was gefährlich sein könnte und so den Körper beschützen will. Genauso haben aber auch unsere Gedanken einen grossen Einfluss auf das Schmerzempfinden – Gedanken sind sehr real. Sie entstehen aufgrund von Nervenimpulsen und Chemikalien, die im Gehirn ausgeschüttet werden. So können Gedanken und die Furcht vor bestimmten Aktivitäten oder die Angst davor, sich nochmals zu verletzen, Schmerzen verstärken. Durch wissenschaftliche Untersuchungen ist bekannt, dass Gedankenprozesse so wirkungsvoll sein können, dass sie einen Schmerzzustand über den eigentlichen Heilungsprozess hinaus aufrechterhalten können. Solche “Gedankenviren” können Schmerzpatienten häufig zur Verzweiflung bringen.
Das autonome Nervensystem umfasst zwei Hauptkomponenten, das sympathische und das parasympathische System. Das sympathische Nervensystem ist ein schnelles, reaktionsfähiges Netzwerk, das vor Bedrohungen schützt und die Leistung bei Bedarf durch die Freisetzung von Adrenalin steigert, welches aus den Nebennieren und über das Nervensystem verteilt wird. Adrenalin ist normalerweise für die Regulierung vieler unbewusster Körperprozesse zuständig, kann aber in Stresssituationen Kampf- oder Fluchtreaktionen auslösen und bei chronischem Stress oder bestimmten Gewebsveränderungen Schmerzen verstärken. Im Gegensatz dazu fördert das parasympathische System "Ruhe und Verdauung", indem es Energie spart, die Verdauung unterstützt und für zelluläre Reparaturen sowie die Wiederauffüllung der Energiespeicher zuständig ist, was besonders während des Schlafs und bei Entspannung aktiv ist.
Zusammen mit dem sympathischen Nervensystem und dem Immunsystem übernimmt das hormonelle System eine weitere Schlüsselfunktion in der Stressantwort. Dabei wirkt es langfristiger als das schnell aktivierte sympathische Nervensystem. Die Stressreaktion wird durch bestimmte anatomische Bereiche gesteuert, wobei bedrohliche Signale zur Ausschüttung von Hormonen führen, insbesondere von ACTH, welches die Nebenniere zur Produktion von Kortisol anregt. Obwohl Kortisol als “Stresshormon” bezeichnet wird, dient es primär als Schutz-Chemikalie, die Körperfunktionen, welche in akuten Gefahrensituationen nicht essenziell sind (wie Verdauung oder Heilung) herunterfährt, während es wichtige Funktionen wie Muskelleistung und Denkvermögen unterstützt. Anhaltend veränderte Kortisol Werte können jedoch zu negativen Folgen wie schlechterer Heilung und Gedächtnisverlust führen.
Unser Immunsystem passt auf uns auf, wenn es uns schlecht geht. Es hat aber auch eine Schlüsselfunktion bei Schmerzen, denn es steht in enger Beziehung mit den auf Adrenalin und Kortisol basierenden Systemen. Diese Systeme kommunizieren untereinander und können einander gegenseitig beeinflussen. So wird man bei grossem Stress selten krank, liegt jedoch sofort mit Grippe im Bett, wenn der Stress weg ist. Gewisse Verhaltensweisen können das Immunsystem stärken und dessen schmerzverstärkenden Einfluss abschwächen:
- Ein Gefühl der Kontrolle über das eigene Leben und über verfügbare Behandlungsmöglichkeiten
- Familiäre und medizinische Unterstützung
- Einen starken Glauben
- Sinn für Humor
- Ausreichend Bewegung
Das Gehirn erzeugt Schmerz als Schutzmechanismus, der die grossen Muskeln kurzfristig zur Flucht oder zum Kampf aktiviert. Eine langfristige Überaktivierung dieser grossen Muskeln ist jedoch unklug, weil sie nicht für permanente Bereitschaft ausgelegt sind und zur Verkürzung und Versteifung neigen. Langanhaltende motorische Veränderungen, die oft mit Schmerzen wie Rückenschmerzen verbunden sind, können durch Angst vor Schmerzen aufrechterhalten werden und Verletzungsrisiken erhöhen, selbst, nachdem der ursprüngliche Schmerz nachgelassen hat. Diese erlernten, veränderten Bewegungsmuster sind schwer zu verlernen und können die Haltung, Bewegung und sogar die Sprache beeinflussen, weshalb es wichtig ist, die zugrunde liegenden Bedrohungen zu verstehen, vor denen das Muskelsystem zu schützen versucht.
Wie kann ich Einfluss auf meine Schmerzen nehmen? Erfahren Sie bald mehr dazu im letzten Teil unserer Serie “Schmerzen verstehen”.