01.07.2025
Serie: Schmerzen verstehen - Teil 1
Aus dem Buch: Schmerzen verstehen
Autoren: David Butler, Lorimer Moseley
ISBN: 978-3-662-48657-3 / 3. Auflage Springer Verlag
Schmerz ist eine grundlegende, mächtige Schutzeinrichtung des Körpers und gilt als normal. Auch bei anhaltenden Schmerzen dient er dazu, uns vor Bedrohung oder Gefahr zu schützen, da das Gehirn, oft unbewusst, eine entsprechende Entscheidung trifft. Das Gehirn beschließt, dass Körpergewebe in Gefahr ist und dass Maßnahmen ergriffen werden müssen. Die Erinnerung an diesen Schmerz hilft, denselben Fehler nicht noch einmal zu machen.
Die Wahrnehmung von Schmerz ist jedoch komplexer, als es auf den ersten Blick scheint. Die Schmerzintensität ist nicht unbedingt vom Schweregrad eines Gewebeschadens abhängig. Beispiele hierfür sind Menschen, die sich schwere Gegenstände in den Körper gespießt haben (z.B. Eisenstange im Bein) und dabei nur wenig oder gar keine Schmerzen empfinden, während ein kleiner Papierschnitt starke Schmerzen verursachen kann. Wenn wir keinen Schmerz verspüren, bedeutet dies, dass unser Gehirn die Gewebeveränderung als nicht bedrohlich einstuft. Viele ältere Menschen mit degenerativen Veränderungen oder Bandscheibenvorfällen auf Röntgenbildern verspüren beispielsweise dennoch keine Schmerzen. Letztendlich entscheidet allein das Gehirn, ob etwas schmerzt oder nicht – und dies gilt ausnahmslos für alle Fälle.
Die Rolle des Gehirns und des Nervensystems
Das Gehirn und das Rückenmark, als Teil des zentralen Nervensystems, analysieren sensorische Informationen umfassend, worauf der Körper entsprechend reagiert. Das Gehirn agiert als Kommandozentrale: Es entscheidet nicht nur über die Wahrnehmung von Schmerz, sondern kann auch beeinflussen, wie stark dieser empfunden wird.
Unser Körper ist mit Millionen von spezialisierten Sensoren ausgestattet, die auf mechanische Kräfte, Temperaturveränderungen und chemische Reize reagieren. Diese Sensoren informieren das Gehirn über Veränderungen und aktivieren Schutzmechanismen, wodurch sie als "Alarmmelder" zur Erkennung potenzieller Gefahren dienen. Es gibt jedoch keine eigentlichen "Schmerzrezeptoren", "Schmerznerven" oder "Schmerzbahnen". Stattdessen reagieren Neuronen (Nervenzellen) in unseren Geweben auf Reize, die stark genug sind, um eine potenzielle Gefahr darzustellen. Die Aktivität dieser Art wird als "Nozizeption" (Gefahrensinn) bezeichnet. Wichtig ist, dass diese Nozizeptionssignale nicht automatisch zu Schmerzempfindungen führen. Nozizeption ist der häufigste, aber keinesfalls der einzige Vorbote von Schmerzen; bestimmte Gedanken oder Orte können auch direkt im Gehirn Alarmsignale aktivieren, ohne dass Nozizeption ausgelöst wird.
Die meisten Sensoren befinden sich im Gehirn und werden durch chemische Botenstoffe aktiviert. Auch Gedanken und extreme Reize können das Alarmsystem auslösen. Die verschiedenen Sensortypen können durch Medikamente oder Chemikalien, wie Betäubungsspritzen beim Zahnarzt, beeinflusst werden. Interessant ist, dass sich Sensoren alle paar Tage erneuern, was die Schmerzempfindlichkeit regelmäßig verändert und für Menschen mit chronischen Schmerzen eine hoffnungsvolle Erkenntnis sein kann.
Die Produktion schmerzempfindlicher Sensoren wird von der DNA gesteuert und kann durch Stress gesteigert, durch Entspannung hingegen reduziert werden.
Gefahrensignale werden an das Rückenmark gesendet, wo eine wichtige "Schaltstelle" – die Synapse – die Signale sortiert und weiterleitet. Nervenzellen im Rückenmark entscheiden, welche Signale an das Gehirn geschickt werden. Das Gehirn kann diese Signale wiederum beeinflussen und Schmerzen aktiv lindern, indem es eigene chemische Stoffe ausschüttet, die wie eine natürliche Medizin wirken.
Wenn eine Gefahrenmeldung im Gehirn eintrifft, muss es diese zusammen mit vielen anderen Informationen und bereits gespeicherten Vorerfahrungen analysieren, beurteilen und bewerten, um ein vernünftiges Szenario für den Organismus zu erstellen. Bei einer Schmerzerfahrung werden sehr viele Teile des Gehirns gleichzeitig aktiviert; es gibt also nicht nur ein einziges Schmerzzentrum, sondern viele "Schmerzknotenpunkte". Jede Schmerzerfahrung ist einzigartig, da jede Person anders auf ankommende Signale reagiert. Das Gehirn, obwohl nur ein Klumpen aus Neuronen, beinhaltet rund 100 Milliarden Neuronen, die Tausende von Verbindungen knüpfen können und sich ständig verändern.
Faktoren, die das Schmerzempfinden beeinflussen
Das Schmerzempfinden wird nicht nur als physische Empfindung wahrgenommen, sondern auch stark von psychologischen, sozialen und kulturellen Faktoren beeinflusst.
Gedanken und Gefühle
Schmerz wird immer von Gedanken und Gefühlen begleitet, wodurch er komplexer erscheint. Emotionale und körperliche Schmerzen werden im Gehirn sehr ähnlich verarbeitet, und jeder "körperliche" Schmerz hat eine emotionale Komponente und umgekehrt.
Kontext und Erwartungen
Es ist wichtig, kontextabhängige Signale zu erkennen, um wirksam mit Schmerz umgehen zu können. Was als mögliche Ursache angenommen wird, spielt ebenfalls eine Rolle. Ein Versuch zeigte, dass die subjektiv angegebenen Schmerzen stiegen, wenn Freiwilligen erzählt wurde, dass eine höhere elektrische Stimulation durch ihren Kopf fließen würde, obwohl keine Stimulation durchgeführt wurde.
Vorerfahrungen und Wissen
Vorerfahrungen und Wissen spielen eine entscheidende Rolle. Wer bereits schmerzhafte Erlebnisse hatte oder negative Erwartungen mit Schmerz verbindet, nimmt ihn oft intensiver wahr. Mangelndes Verständnis für den Schmerzmechanismus kann dazu führen, dass Schmerzen länger anhalten oder stärker empfunden werden.
Situative Faktoren
Viele Faktoren entscheiden über die Reaktion des Körpers auf sensorische Informationen. So empfindet ein professioneller Masseur bei einer Fingerverletzung deutlich mehr Schmerzen als ein professioneller Tänzer, da die Finger für den Masseuren von wesentlich größerer Bedeutung sind. Auch Nebensächliches wie Geschlechterrollen, Sexismus, Kontrollgefühle, Arbeitsbelastung und Ergonomie können das Schmerzempfinden beeinflussen.
Soziales Umfeld
Das soziale Umfeld kann die Schmerzwahrnehmung maßgeblich beeinflussen. Wenn Menschen Schmerz dramatisieren, kann dies die eigene Empfindung verstärken. Umgekehrt kann ein unterstützendes Umfeld helfen, Schmerz als weniger belastend wahrzunehmen. Kinder beobachten zunächst die Reaktion ihrer Eltern, bevor sie selbst über ihre Schmerzen entscheiden.
Alter, Geschlecht und Kultur
Die genauen Einflüsse dieser Faktoren sind noch nicht vollständig geklärt. Ältere oder jüngere Menschen verspüren nicht automatisch weniger Schmerzen als Menschen mittleren Alters; es hängt von individuellen und sozialen Faktoren ab. Schmerzerfahrungen sind oft durch gesellschaftliche Rollenerwartungen geprägt, nicht nur biologisch bedingt. Der Mythos, Frauen hätten eine geringere Schmerztoleranz, könnte darauf zurückzuführen sein, dass Frauen Schmerz offener kommunizieren. Historische Schmerzstudien wurden zudem häufiger an Männern durchgeführt, was zu einer einseitigen Perspektive führen könnte. Kulturelle Einflüsse spielen eine große Rolle, wie Initiationsriten zeigen, bei denen Gewebeschäden nicht als schmerzhaft empfunden werden, da sie eine gesellschaftliche Bedeutung haben. Es gibt auch deutliche kulturelle Unterschiede in der Schmerzempfindung, zum Beispiel bei der Wahrnehmung starker Sonneneinstrahlung.
Phantomschmerzen und der "virtuelle Körper"
Phantomschmerzen, also Schmerzen in einem nicht mehr existierenden Körperteil (z.B. nach Amputationen), geben Einblick in die "Landkarte des Körpers" bzw. den "virtuellen Körper" im Gehirn. Das Gehirn enthält tatsächlich viele virtuelle Körper, die uns über die räumliche Position unseres eigentlichen Körpers informieren. Bei Phantomgliedern ist das virtuelle Bein und seine Verbindung zum Körper immer noch im Gehirn repräsentiert, auch wenn das Bein physisch nicht mehr existiert.
Bildgebende Verfahren haben gezeigt, dass Phantomschmerzen mit umfangreichen Veränderungen der Gehirnorganisation verbunden sind. Es wurde auch bekannt, dass jede Art von chronischen Schmerzen zu ausgeprägten Umstrukturierungen im Gehirn führt, die wiederum Veränderungen des virtuellen Körpers nach sich ziehen können, z.B. ein "Verwischen" des zuständigen Gehirnareals bei Phantombeinschmerz.
Insgesamt ist das Gehirn ein unglaublich komplexes System, das sich ständig verändert. Schmerz, selbst wenn er das ganze Leben zu beeinflussen scheint, ist nur ein Teil dieses riesigen Systems mit mannigfaltigen Aufgaben. Das Gehirn analysiert und bewertet Mitteilungen, worauf unterschiedliche Systeme reagieren – wie z.B. schwitzende Hände. Unser gesamtes System, einschließlich Muskeln, Nervensystem, Immunsystem und endokrinem System, hilft uns bei der Bewältigung von Schwierigkeiten.
Dies funktioniert wie ein Kurzstreckenläufer auf einem Sprint – doch was passiert, wenn der Schmerz zum Marathon wird? Erfahren Sie mehr in unserem nächsten Beitrag dieser dreiteiligen Reihe über Schmerzen.